Verbundprojekt „Auf-Wirkung. Aufarbeitung für wirksame Schutzkonzepte in Gegenwart und Zukunft"
Teilprojekt 5: Aufarbeitung Kindesmissbrauch und Erinnerungskultur. Strukturelle Bedingungen und gesellschaftliche Konsequenzen von Kindesmissbrauch sowie konzeptionelle Rahmung einer gesellschaftlich nachhaltigen Erinnerungskultur
Kurztitel: Auf-Wirkung, TP Aufarbeitung Kindesmissbrauch und Erinnerungskultur
Projektleitung:Prof. Dr. Jens Brachmann
Projektmitarbeiter: Bastian Schwennigcke, M. A.
Laufzeit des Projekts: 02.01.2018 - 31.12.2020
Förderung des Projekts: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF; Förderkennziffer: 01SR1709E)
Problemstellung: Das Verbundprojekt verfolgt die These, dass die Entwicklung und Implementierung wirksamer Konzepte des Kinderschutzes nur dann gelingen können, wenn Präventionsvorhaben die kollektiven Strategien transgenerationaler Gewalt und ihrer Tabuisierung dauerhaft und sozial umfassend reflektieren. Das bedeutet vor allem, nach Antworten auf die Frage zu suchen, wie eine solche Reflexion möglich ist, d.h. unter welchen Bedingungen und mit welchen symbolisch-kommunikativen, rechtlichen, politischen und anderen kulturellen Mitteln die Auseinandersetzung mit Formen und Bedingungen transgenerationeller, sexualisierter Gewalt an konkreten sozialen Orten sowie auch gesamtgesellschaftlich dauerhaft anschlussfähig gestaltet werden kann.
Die Voraussetzung dafür ist eine bisher so nicht geleistete Verbindung zwischen der Aufklärung und Aufarbeitung von Fällen transgenerationeller, sexualisierter Gewalt einerseits und der langfristigen Einbettung der Ergebnisse solcher Aufklärungsarbeit in die Diskurse und Ausdrucksformen erinnerungskultureller Praxis andererseits.
Um diese Verbindung aus Aufklärung und Erinnerung leisten zu können, wird im Projekt eine topische Reflexion verfolgt, die unterschiedliche Aspekte der Auseinandersetzung mit transgenerationeller Gewalt akzentuiert und in Bezug zueinander setzt. Zu diesen Aspekten gehören (vgl. Brachmann 2017; 2018):
- Erinnerung (Sprechen, Zuhören)
- Anerkennung traumatischer Erfahrungen (Glauben-Schenken)
- Rechtsprechung (juristische Rehabilitation)
- Wiedergutmachung (gesellschaftlich Rehabilitation)
- erinnerndes Gedenken (mit Hilfe monumentaler und ereignishafter Formate öffentlicher Geddächtniskultur)
Fragestellungen im Projekt:
1. Was leistet Aufklärung bisher, was soll sie leisten?
- Wie wird Aufarbeitung in der Praxis nationaler und internationaler Aufarbeitungsprojekte verstanden?
- Welche systematischen Erkenntnisse lassen sich aus Aufarbeitungsprojekten für die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ziehen?
- Welche zivilgesellschaftlichen Erwartungen muss Aufarbeitung von Missbrauchsverbrechen erfüllen?
2. Wie kann Erinnerungsarbeit gelingen?
- Wie laässt sich Aufarbeitung als Dialektik aus Aufkllärung und Ausssöhnung auch jenseits wissenschaftlicher Ordnungslogiken und als transdimensionaler gesellschaftlicher Prozess denken?
- Welcher erinnerungstheoretische Rahmen ist für die Bearbeitung dieser Frage geeignet?
- Welche symbolischkommunikativen und welche didaktischen Formen des Gedenkens sind geeignet?
3. Welche Anforderungen haben unterschiedliche Betroffenengruppen?
- Welche Bedeutung messen Betroffene dem gesellschaftlichen Erinnern bei?
- Welche Verbindungslinien zur Gegenwart und Zukunft von Heranwachsenden ziehen sie?
- Welche intra und intergruppenspezifischen Unterschiede gibt es bei den Erwartungen und Anforderungen an Erinnerungsarbeit bei verschiedenen Betroffenen, etwa den direkt von Übergriffen Betroffenen, Angehörigen, oder Personengruppen, die während oder nach der Phase der Aufklärung Mitglied einer Institution geworden sind, in der es zu Übergriffen gekommen ist?
Ziele und Aktivitäten:
1. Im Projekt soll eine Metaanalyse erarbeitet werden, die allgemeine Grundlagen gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitung sowie ihre legislativen, judikativen, exekutiven und zivilgesellschaftlich-erinnerungskulturellen Konsequenzen problematisiert. Datenbasis dieser Analyse sind eine Reihe an öffentlich zugänglichen Berichten und Dokumentationen nationaler und internationaler Kommissionen, die zur Aufklärung institutioneller, transgenerationell begangener sexualisierter Gewalt in den vergangenen Jahren eingerichtet wurden. Die Analyse ist eingebettet in die Entwicklung eines Theorierahmens, der geeignet ist, die in den Berichten dokumentierte Praxis der Aufklärung und Anerkennung von Gewalterfahrungen wissenschaftssystematisch und hinsichtlich ihrer normativen und diskursiven Grundlagen einschätzen zu können.
2. Zugleich soll praktisch geklärt werden, welche Formen der Erinnerung überhaupt geeignet erscheinen, um eine langfristige institutionelle wie gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den historischen Fällen transgenerationeller sexualisierter Gewalt sowie mit den kulturell und sozial teils fortdauernden, stabilen Bedingungen für solche Übergriffe zu ermöglichen und den Diskurs über die Prävention und den Schutz vor Übergriffen zu befördern.
3. Dafür müssen die im Rahmen der Metaanalyse (Ziel 1) gewonnenen Ergebnisse zum einen auf ihre erinnerungstheoretischen Implikationen hin untersucht werden. Zum anderen werden wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure*innen der Erinnerungsarbeit zum Gespräch über die theoretischen und praktischen Herausforderungen einer erinnerungskulturellen Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt eingeladen. Das geschieht zum einen im Format einer Tagung. Darüber hinaus sind themenspezifische Diskurs- und Entwicklungsformate (Gruppendiskussionen, Zukunftswerkstätten) geplant, die der Exploration geeigneter Formen eines zukünftigen institutionellen wie gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit der Anerkennung, Erinnerung und Prävention sexualisierter Gewalt dienen sollen. Diese Diskursformate werden mit Mitteln der qualitativen Sozialforschung analysiert und ausgewertet.
4. Die gewonnenen Erkenntnisse bedürfen zusätzlich und langfristig der Kritik und Prüfung, etwa durch die Auseinandersetzung mit den Vergangenheitsentwürfen und Erwartungen von Personen, die von Übergriffen betroffen waren oder in anderer Hinsicht Teil einer Institution waren, in der es zu Übergriffen gekommen ist. Auch hierfür kommen die unter 3) beschriebenen kollaborativen Explorations- und Diskursformate zum Einsatz.
5. Abschließend werden im Teilprojekt Leitlinien und praktische Empfehlungen entwickelt, die helfen sollen, eine erinnerungskulturelle Praxis für die langfristige Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit transgenrerationeller, sexualisierter Gewalt sowohl auf Ebene einzelner betroffener Institutionen als auch in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht zu begründen. Die Empfehlungen werden mit den Ergebnissen in den anderen Teilprojekten des Verbunds abgeglichen, trinanguliert und zu einem Komplex an Anforderungen für die Aufarbeitung und Prävention transgenerationeller, sexualisierter Gewalt kombiniert.
Literaturhinweise:
- Brachmann, J. (2017). Pädosexuelle Gewaltverbrechen : Erwartungen an die „wissenschaftliche“ Aufarbeitung. Erziehungswissenschaft: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), 28(54), 75–84.
- Brachmann, J. (2018). Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als gesellschaftliche Aufgabe. In A. Retkowski, A. Treibel, & E. Tuider (Hrsg.), Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte: Theorie, Forschung, Praxis (S. 804–813). Weinheim: Beltz Juventa.
- Honneth, A. (2015). Reflection: The Recognitional Structure of Collective Memory. In D. Nikulin (Hrsg.), Memory: A History (S. 316–324). Oxford, New York: Oxford University Press.
- Margalit, A. (2002). Ethik der Erinnerung: Max Horkheimer Vorlesungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
- Olick, J. K. (2007). The Politics of Regret: Analytical Frames. In J. K. Olick (Hrsg.), The Politics of Regret: On Collective Memory and Historical Responsibility (S. 121–138). New York, London: Routledge.
- Olick, J. K. (2007). The Value of Regret? Lessons from and for Germany. In J. K. Olick (Hrsg.), The Politics of Regret: On Collective Memory and Historical Responsibility (S. 139–151). New York, London: Routledge.
- Sternfeld, N. (2011). Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart: Gedenkstätten als Kontaktzonen. eipcp multilingual webjournal, (12). eipcp.net/policies/sternfeld/de
Internetlinks:
https://beauftragter-missbrauch.de/aufarbeitung/aufarbeitung-international/
https://beauftragter-missbrauch.de/aufarbeitung/aufarbeitung-in-deutschland/
Tagung vom 27.-28.01.2020