Forschungsprojekt „Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule"

 

Laufzeit: bis Ende 2017

Projektleitung: Prof. Dr. Jens Brachmann

Hintergrund:

Im Jahr 2010 ist die Odenwaldschule in den Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte über sexualisierte Gewalt an Kindern in pädagogischen Institutionen geraten und als langjähriges Missbrauchs- und Vertuschungssystem enttarnt worden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit verfiel das Landerziehungsheim daraufhin in eine tiefe Legitimations- und Selbstkonzeptkrise und initiierte einen Aufklärungs- und Schulentwicklungsprozess, der neben institutionellen Reformen auch eine wissenschaftliche Untersuchung zu den Vorkommnissen und Ermöglichungsbedingungen pädokrimineller Gewalttaten am einstigen Vorzeiginternat ermöglichen sollte. Parallel zum geplanten Beginn der Studie im Jahr 2014 ergaben sich erneute Verdachtsfälle an der Odenwaldschule, so dass die Einrichtung trotz ihrer vermeintlichen Präventionsoffensive endgültig ihr gesellschaftliche Ansehen und schließlich auch ihre Betriebserlaubnis verlor. Um die Forschung dennoch weiterhin zu finanzieren und Aufarbeitung zu gewährleisten, hat das Hessische Ministerium für Soziales und Integration inzwischen die Anschlussfinanzierung übernommen.

Zielstellung:

Als Teilstudie in einem Kooperationsprojekt mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung München (IPP) untersucht die Rostocker Forschergruppe aus einer institutionentheoretischen und diskursanalytischen Perspektive die Geschichte eines Tätersystems an der Odenwaldschule und rekonstruiert dabei sowohl die institutionellen als auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das problematische Krisenbewältigungs- und Aufklärungsverhalten der einstigen reformpädagogischen Vorzeigeinstitution. Das Forschungsinteresse richtet sich somit im Einzelnen: a) auf die Entstehung und die Reichweite pädosexueller Netzwerke an der und um die Odenwaldschule, b) auf organisationskulturelle Risikofaktoren sowie c) auf die Wechselwirkungen zwischen den ambivalenten Deutungsmuster und Problemlokalisierungen im (fach-)öffentlichen Diskurs sowie den erfolglosen schulinternen Reform-prozessen. Grundlage der Untersuchungen sind einerseits umfangreiche Archivrecherchen in enger Ko-operation mit dem Hessischen Staatsarchiv Darmstadt sowie eine systematische Analyse der medialen Berichterstattung im Zeitraum zwischen 2010 und 2015. Ergänzt wird dieser organisationslogische Blick auf die pädosexuelle Gewaltproblematik durch den subjektorientierten Forschungszugang des Kooperationspartners im Verbundprojekt. So nimmt das IPP unter der Mitarbeit von Prof. Heiner Keupp über eine empirische Interviewstudie in erster Linie die individuellen Darstellungen und Sichtweisen von Altschülern und ehemaligen Lehrern in den Blick, um genauere Erkenntnisse über die Handlungsmuster von Tätern bzw. die Erfahrungsverarbeitung von Betroffenen zu erhalten. Dieser multiperspektivische Ansatz soll schließlich neue theoretische Erkenntnisse über die konstitutiven Bedingungen und Merkmale sexualisierter Gewalt an pädagogischen Institutionen liefern und zugleich auf die Herausforderungen aktueller Aufarbeitungskampagnen und Schulentwicklungsprogramme verweisen.